Das Zeitalter von ChatGPT: Mögliche Folgen der generativen KI für das Rechtswesen

Steve Couling
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Derzeit häufen sich Sensationsmeldungen über ChatGPT als neueste und beste Anwendung eines generativen KI-Modells. Die Veröffentlichung der neuesten Version, GPT-4, kommt mutmaßlich dem menschlichen Leistungsvermögen nahe und gilt als das „bisher höchstentwickelte System“.

Für Aufsehen sorgte zudem die Bekanntgabe der milliardenschweren Partnerschaft zwischen Microsoft und OpenAI, den Entwicklern von ChatGPT. So plant Microsoft, die Technologie von ChatGPT in die eigene Suchmaschine Bing zu integrieren.

Vor diesem Hintergrund kündigte auch Google die Veröffentlichung seiner eigenen generativen KI namens 'Bard' an. Damit ist der Startschuss für den Wettlauf um Large Language Models (LLM) gefallen, also dem Wettbewerb um große Sprachmodelle.

Ganz offensichtlich versucht die Tech-Branche im Rekordtempo den Trend zur generativen KI zu nutzen. So hat Snapchat den Bot 'My AI' angekündigt, mit dem man sich wie mit einem befreundeten Menschen unterhalten können soll. Amazon erlebt eine Schwemme von Büchern, die über und mithilfe von ChatGPT verfasst wurden. Mittlerweile lässt sich ChatGPT auch in WhatsApp integrieren, um einen automatischen ChatBot zu erstellen. Spotify steht da nicht zurück: Der neue KI-gestützte DJ führt Nutzer in natürlicher Sprache durch personalisierte Playlists.

Doch nicht in jeder Branche rennt ChatGPT offene Türen ein.

Der Widerspenstigen Zähmung

Mit dem Aufkommen von ChatGPT dürfte ein grundlegender Wandel in vielen Berufen einsetzen. Das trifft ganz offensichtlich und insbesondere für Lehrberufe zu. Wie ChatGPT von Schülern in Zukunft genutzt werden sollte, wird derzeit lebhaft diskutiert. Das International Baccalaureate (Internationales Abitur) – ein international anerkannter Schweizer Schulabschluss, der von der in Genf ansässigen Organisation du Baccalauréat International (OBI) vergeben wird – erlaubt Schülern mittlerweile, ChatGPT in Ausarbeitungen als vertrauenswürdige Quelle anzugeben.

Hochschulen zeigen sich bislang meist weniger aufgeschlossen. Die britischen Universitäten von Oxford und Cambridge stehen stellvertretend für einen entschiedenen Widerstand. Sie warnen eindringlich vor der Nutzung von ChatGPT und sehen darin ein akademisches Fehlverhalten. Andere Hochschulen sind toleranter. Das University College London bringt beispielsweise den Studierenden bei, wie man neue KI-Technologien ethisch korrekt und nachvollziehbar einsetzt.

In der akademischen Welt herrscht allgemein aber noch keine Klarheit darüber, wie ChatGPT gehandhabt werden sollte. Einige Stimmen sehen bereits das Ende der herkömmlichen schriftlichen Seminararbeiten oder Klausuren kommen.

ChatGPT sorgt in allen Bereichen für Unruhe – auch im Rechtswesen.

Von der Theorie zur Praxis

In Großbritannien hat die weltweit agierende Londoner Großkanzlei Allen & Overy in Partnerschaft mit OpenAI, den Entwicklern von ChatGPT, einen eigenen Chatbot (Harvey) eingeführt. Die Kanzlei sieht in der Fähigkeit von Harvey, in mehreren Sprachen zu arbeiten, eine Schlüsselfunktion für die Automatisierung und Verbesserung zahlreicher juristischer Aufgaben – von der Vertragsanalyse bis zur Einhaltung gesetzlicher Vorschriften. In Testläufen konnten vergangenes Jahr 3.500 Anwälte der Kanzlei dem Chatbot rund 40.000 Fragen aus der täglichen Arbeit mit Mandanten stellen. Mit „erstaunlichen Ergebnissen“.

Eine weitere britische Kanzlei, nämlich Mishcon de Reya LLP, beschäftigt einen sogenannten GTP Legal Prompt Engineer. Dieser soll der Kanzlei dabei helfen, ChatGPT auf die Arbeit der Kanzlei anzuwenden. Daniel Hoadley, Head of Data Science bei Mishcon, sagte: „Das Data Science Team von Mishcon arbeitet seit 2019 in der Rechtspraxis mit großen Sprachmodellen (LLMs). Seit einigen Jahren erleben wir einerseits einen regelrechten Hype um Künstliche Intelligenz, werden andererseits aber auch mit enttäuschenden Ergebnissen konfrontiert. ChatGPT und die jüngste Veröffentlichung des neuen GPT-4 Modells von OpenAI scheinen die Karten neu zu mischen.

Wir arbeiten intensiv an Möglichkeiten, diese Technologien für die Kanzlei sicher zu nutzen. Gleichzeitig haben wir unverzüglich eine Richtlinie eingeführt, die die Nutzung von ChatGPT für Kundendaten und interne Informationen untersagt, solange wir unsere Analyse nicht abgeschlossen haben. Fest steht allerdings, dass alle unsere Mitarbeiter und Anwälte für diese Technologien sensibilisiert sind. Uns geht es vor allem darum, diese Modelle vorteilhaft für eine Reihe von Anwendungsfällen zu nutzen: vom Wissensmanagement über E-Discovery bis hin zur Erstellung von Dokumenten und juristischen Recherchen.“

In den Vereinigten Staaten hat ChatGPT einer Design-Agentur geholfen, 109.000 Dollar von einem betrügerischen Kunden zurückzubekommen, der abgetaucht war, ohne die erbrachten Leistungen zu bezahlen. Die Agentur schaffte das, ohne Geld für Anwaltskosten auszugeben. Der ChatBot bestand zudem Jura-Prüfungen an der renommierten Universität von Minnesota, ebenso wie den Multiple-Choice-Teil der US-Anwaltsprüfung.

Mit generativer KI wird nicht nur in der Theorie experimentiert. Sie wird in der juristischen Praxis bereits eingesetzt. In Kolumbien räumte ein Richter offen ein, Dialoge mit ChatGPT geführt zu haben, um besser beurteilen zu können, ob die Versicherung eines autistischen Kindes die Kosten einer medizinischen Behandlung übernehmen sollte.

Diese Entwicklungen erweitern das Spektrum der Möglichkeiten für KI-gestützte juristische Systeme und lösen lebhafte Debatten darüber aus, was das für den Anwaltsberuf im Allgemeinen bedeuten könnte.

Freund oder Feind?

ChatGPT markiert eine Zäsur: Die Welt ist angesichts der zukunftsweisenden Fähigkeiten des Chatbots verblüfft. Juristen bilden da keine Ausnahme. Doch zur anfänglichen Euphorie gesellte sich schnell die irritierende Frage, ob die juristischen Berufe vielleicht gerade ihrem Nachfolger begegnen.

Dass Anwälte von ChatGPT vollständig verdrängt werden, ist zwar kaum zu erwarten. Doch grundsätzlich wird wohl jede Tätigkeit, die die Erstellung schriftlicher Inhalte erfordert, von generativen KI-Systemen betroffen sein.

Die Anwendung von ChatGPT lässt sich aus zwei entgegengesetzten Standpunkten betrachten. Anwälte sollten sich irgendwo in der Mitte verorten: zwischen einer existenziellen Bedrohung und einer unverzichtbaren Notwendigkeit. Diejenigen, die sich gegenüber hochentwickelten Technologien verschließen und nicht bereit sind, deren Potenzial zu erkunden, werden möglicherweise von der Konkurrenz abgehängt.

Jeder Anwalt, der sein Handwerk versteht, sollte zunächst die Argumente für und wider die Integration von ChatGPT in die juristische Arbeit abwägen.

Moderner Nürnberger Trichter

ChatGPT verspricht immense Vorteile für Syndikusanwälte und Kanzleien. Generative KI-Technologien wie ChatGPT können die Kommunikation rationalisieren, langwierige Vorgänge vereinfachen und die Produktivität steigern. Technikaffine Anwälte werden bereits die möglichen Kosten- und Zeiteinsparungen im Blick haben.

ChatGPT formuliert in Sekundenschnelle Antworten auf juristische Fragen. ChatGPT könnte beispielsweise Mitteilungen an Interessenspartner, Mandanten, gegnerische Anwälte und Gerichte entwerfen und den Anwälten somit zeitintensive Arbeiten abnehmen. So bliebe mehr Zeit für strategisch komplexere und wertvollere Aufgaben, beispielsweise die Akquise von Neugeschäften oder die Pflege bestehender Kundenbeziehungen.

Antworten lassen sich mit ChatGPT schneller formulieren. Das erleichtert die interne Kommunikation zwischen Abteilungen und die externe Kommunikation mit Dritten. Kundenanfragen werden umgehend beantwortet und geraten nicht aus dem Blick. Fälle werden zügig und kontinuierlich bearbeitet, der Druck aufgrund enger Fristen und Termine sinkt und der Kunde weiß, dass sein Anliegen stets Priorität hat.

Aus der Automatisierung von administrativ anstrengenden und lästigen Aufgaben ergeben sich erhebliche Kosteneinsparungen. eDiscovery ist ein naheliegendes Beispiel für die Einsparung von Zeit und Kosten durch generative KI-Modelle, mit denen Kanzleien und Syndikusanwälte in kürzerer Zeit mehr erreichen können. So nutzt Text IQ beispielsweise seine generativen KI-Fähigkeiten, um bei der Prüfung auf Dokumente, die dem Anwaltsgeheimnis unterliegen, Kategorien für die Erstellung von Geheimhaltungsverzeichnissen vorzuschlagen. Das kann 80 % der Zeit einsparen, die für die manuelle Durchführung dieser Tätigkeit erforderlich ist.

Die Wissensanreicherung ist ein weiterer wichtiger Aspekt von ChatGPT. Kanzleien und Syndikusanwälte können komplexe Fragen stellen, die die KI in natürlicher Sprache beantwortet. So lassen sich beispielsweise Zusammenfassungen erstellen oder die Details eines bestimmten Falles klären.

ChatGPT kann in jeder Phase des eDiscovery-Prozesses einen handfesten Beitrag leisten – ob Lesen, Schreiben, Recherchieren oder Planen. Der zusätzliche Einblick in komplizierte Sachverhalte ist neben der Entlastung von mühsamen Routinearbeiten ein Gewinn für jede Rechtsabteilung.

ChatGPT kann unser Leben unter vielen Aspekten erleichtern. Wer diese KI nutzt, sollte allerdings umsichtig vorgehen.

Der Mensch als oberste Instanz bleibt unverzichtbar

Die umfassenden Möglichkeiten der neuen Technik verpflichten gleichzeitig zu einem besonnenen Umgang mit ChatGPT.

ChatGPT ist kein Wunderwerkzeug. Es gibt Grenzen, die sorgfältig bedacht werden müssen. Dazu gehört auch das Gebot, die Fähigkeiten des Chatbots nicht zu überschätzen. Das Wissen von ChatGPT basiert auf einem Trainingsdatensatz, der bis Juni 2021 reicht. Die Beantwortung juristischer Anfragen beruht daher möglicherweise auf einem unvollständigen und veralteten Rechtsüberblick.

Angesichts der sich ständig ändernden rechtlichen und juristischen Rahmenbedingungen weltweit ist es kaum anzunehmen, dass ChatGPT in der heutigen Version die erforderlichen juristischen Kenntnisse besitzt, um mit allen internationalen Gesetzesänderungen Schritt zu halten. Kein Anwalt könnte es sich leisten, sich vollständig auf ChatGPT zu verlassen.

Um Wissenslücken zu kompensieren, neigt ChatGPT dazu, Antworten zu erfinden, was bisweilen als „halluzinieren“ bezeichnet wird. Das kann sich für Anwälte als wahres Minenfeld erweisen, da die Trennung von Fakten und Fiktionen nicht klar erkennbar ist. An dieser Stelle ist der Mensch als letzte Qualitätsinstanz unverzichtbar.

Ein weiterer Schwachpunkt von ChatGPT ist der „Bias“, also die mögliche Verzerrung. ChatGPT weiß nur das, was es aus Trainingsdaten herauslesen kann. Daher fließen auch viele in den Trainingsdaten vorhandene Verzerrungen in die Antworten ein. Dies können sexistische, rassistische, homophobe und fremdenfeindliche Klischees sein. Derzeit ist noch unklar, wie sich diese Verzerrungen wirksam unterbinden lassen.

Kanzleien und Syndikusanwälte, die ChatGPT nutzen, werden sich auch mit der Vertraulichkeitsfrage auseinandersetzen müssen. Ein Bereich, der mit potenziellen Risiken behaftet ist. Anwälte werden sorgfältig abwägen müssen, welche sensiblen Daten sie der KI anvertrauen wollen. Denn das Ziel, die operative Effizienz zu steigern, darf nicht mit der Verpflichtung kollidieren, vertrauliche Informationen geheim zu halten.

Ein weiterer Stolperstein ist die Verletzung von Urheberrechten. Derzeit lässt sich kaum nachprüfen, woher ChatGPT seine Erkenntnisse bezieht. Wenn jemand ChatGPT beispielsweise zu Recherchezwecken nutzt und die KI eine Antwort mit Inhalten Dritter ohne Quellenangabe erzeugt, begeht er mit der Weiterverwertung oder Verbreitung dieser Informationen u. U. eine Urheberrechtsverletzung.

Abfrageergebnisse von ChatGPT werden in der Branche gerne mit einer „Ausarbeitung ohne Fußnoten verglichen. Kein ideales Szenario, wenn man bedenkt, dass akribische Genauigkeit die Grundlage jeder Rechtsabteilung sein sollte.

Wir sehen uns vor Gericht!

Das Phänomen der KI-generierten Urheberrechtsverletzungen wird bereits weltweit diskutiert. So hat Getty Images in Großbritannien eine Klage wegen Urheberrechtsverletzung gegen Stability AI eingereicht, den Entwickler des KI-Bildgenerators Stable Diffusion. Der Vorwurf: Stability AI habe Millionen von Bildern, an denen Getty Images die Rechte hält, ohne Zustimmung zum Training seiner KI verwendet.

In den USA haben Microsoft, GitHub und OpenAI vor Gericht beantragt, eine Sammelklage eines Softwareentwicklers abzuweisen, der behauptet, dass die Entwicklung des KI-gestützten Programmierassistenten GitHub Copilot „Softwarepiraterie in einem beispiellosen Ausmaß darstellt“.

Die Urteile werden in beiden Fällen erhebliche Auswirkungen auf die gesamte Branche haben. Denn daran werden die Vorgaben deutlich werden, unter denen KI in Zukunft rechtlich, moralisch und ethisch genutzt werden darf. Die in einigen Common-Law-Ländern geltende Rechtsdoktrin der 'Fair Use', die unter bestimmten Vorgaben die Nutzung von geschütztem Material zugesteht, wird von den Richtern sehr umsichtig betrachtet werden müssen. Je nachdem, in welche Richtung sich die Rechtsprechung entwickeln wird, könnte dies eine Welle von Klagen auf Urheberrechtsverletzungen durch den Einsatz von KI auslösen.

Fazit

Es stellt sich nicht die Frage, ob ChatGPT in der juristischen Praxis eingesetzt werden wird, sondern wann. Das große Interesse an ChatGPT hat eine breite Diskussion darüber angestoßen, wie, warum und wo hochentwickelte Technologien in der modernen Rechtsanwendung eingesetzt werden sollten.

Generative KI kann den menschlichen Anwalt zwar nicht ersetzen, aber sie kann eine wichtige Rolle spielen, sofern ihr Output hinreichend geprüft wird. KI kann mühsame Recherchearbeiten übernehmen, Hinweise aus Dokumenten heraussuchen und wichtige erste Schriftstücke verfassen. Richtig eingesetzt, spart sie Zeit, steigert die Effizienz und ist für vielbeschäftigte Kanzleien und Syndikusanwälte von großem Wert. Solange das von ChatGPT gelieferte Material nicht unbesehen übernommen wird, können Anwälte die KI als internen Partner nutzen, um ein neues Maß an Produktivität zu erzielen.

Dem Vorwurf der Urheberrechtsverletzungen können Anwälte vorbeugen, indem sie es vermeiden, Materialien ohne Prüfung der Quellenlage zu verwerten.

Man sollte ChatGPT als eine Möglichkeit zur Ergänzung der eigenen Fähigkeiten und als zusätzliche Informationsquelle betrachten. Grundsätzlich müssen klare ethische Richtlinien für den Umgang mit personenbezogenen Daten beim Training von KI-Systemen festgelegt werden, um rechtliche Fallstricke und Geheimhaltungsverstöße zu vermeiden.

Abschließend lässt sich sagen, dass ChatGPT das Potenzial zu einem leistungsfähigen juristischen Werkzeug hat. Bei sorgfältiger Kontrolle, realistischen Erwartungen und einer aufgeschlossenen Herangehensweise werden Anwälte, die bereit sind, die Fähigkeiten der KI zu nutzen, ihren Weg auch in einem dynamisch veränderlichen Markt erfolgreich gehen können.


Mehr über generative KI erfahren Sie in Beyond the Jargon: 4 Generative AI Terms You Should Know. (dt. Fachjargon erklärt: 4 Begriffe der generativen KI, die Sie kennen sollten).